Herbsttränen, Kapitel 5

Der Regen klopft in stetigen Rhythmen an das Fenster, mittlerweile ist es dunkel draußen und die warmen Lichter des Cafés werfen einen sanften Schein auf die nasse Straße.
Maria rührt in ihrem Latte macchiato herum, er ist mittlerweile abgekühlt.
„Ich gebe nicht auf, bis ich deine Nummer habe“, murmelt sie mit einem leisen, bitteren Lachen.
Ihre Nummer hat er nicht, ebenso wenig wie ihren Namen. Das liegt daran, dass er kurz nachdem sie den Kaffee geholt haben auf einmal etwas wichtiges zu tun hat.
„Toll“, sie betrachtet den kalten Kaffee, „Warum lass ich mich auf den Mist überhaupt ein?“
Sie nimmt einen Schluck und verzieht ihr Gesicht, kalt hat ihr Kaffee noch nie geschmeckt.

Maria seufzt und steht auf, den Pappbecher samt Inhalt schmeißt sie in den Mülleimer.

Die Barista gibt der jüngeren Frau einen mitleidigen Blick. „Hey“, die Schwarzhaarige sagt schnell etwas, bevor Maria den Laden verlässt.

Möchtest du eine heiße Schokolade? Ist gut für die Seele“, sie lächelt aufmunternd, aber die andere schüttelt den Kopf.

Schönen Tag noch“, antwortet sie, bevor sie rausgeht.

Der Regen benässt ihre Klamotten, unter anderem ihre weiße Bluse, es dauert nicht lange, bis sie an Marias Haut klebt.

Sie beachtet das nicht und läuft zur Bushaltestelle, zu ihrem Glück kommt der Bus in dem Moment, in dem sie kommt.

Sie zeigt ihre Karte vor und geht durch den Bus, bis nach ganz hinten um sich hinzusetzen. Das hat sie schon immer gemacht um zu vermeiden, dass andere mit ihr reden.

Sie schaut aus dem Fenster und betrachtet die Regentropfen, die langsam das Glas runter laufen.

Die junge Frau fischt ihr Handy aus ihrer Handtasche und wirft einen Blick darauf, wenn sie sieht, dass ihre Mutter ihr einige Nachrichten geschrieben hat, in denen sie fragt, wo sie denn bleibe, antwortet sie schnell, dass sie auf dem Heimweg ist.

Ihr Handy verschwindet wieder in ihrer Tasche und sie lehnt ihren Kopf gegen das Fenster.

Maria beobachtet, wie die Regentropfen Wettrennen zu veranstalten scheinen, einer schneller als der andere. Als ein Kind hat sie sich immer vorgestellt, sie wäre so etwas wie ein Schiedsrichter bei einem Wettbewerb der Regentropfen, das Fenster war die Rennbahn.

Ich bin zu alt dafür“, murmelt sie leise. Beinahe ebenso leise lacht sie.

Alt“, sagt sie zu sich selbst, „Was ist denn schon alt?“
Sorgen darüber, dass jemand sie hören könnte, macht sie sich nicht, sie ist die einzige Person im Bus.

Sie schiebt den Gedanken übers Altsein beiseite und konzentriert sich wieder auf die Fensterscheibe, auf ihre kleine Rennbahn und ihren eigenen kleinen Wettbewerb.

Amüsiert denkt sie daran, wie sie als Kind auf dem Heimweg von der Schule immer versucht hat am schnellsten zu laufen, sodass kein anderer vor ihr lief.

Sie hat sich immer gesagt, dass wenn sie sich nur genug bemühe und wenn sie nur schnell genug sei, sie ihr Ziel als Erste erreiche und somit die Siegerin sei.

Doch die Siegerin wovon?

Sie runzelt die Stirn.

Sie hat sich immer diesen inneren Wettkampf, von dem niemand sonst wusste, so vorgestellt, dass sie letzten Endes die wäre, für die sich die Schnelligkeit auszahlt, die Mühe, jedes Mal wenn sie atemlos nach Hause gekommen ist, weil jemand sie beinahe überholt hat.

Und jetzt?

Sie hat einen Job, aber ihre Chefin macht es ihr schwer diesen Job zu behalten.

Sie trifft sich gelegentlich mit Männern ihres Alters, aber oft genug wird sie sitzen gelassen, oder ist die Einzige die redet, weil allem Anschein nach ein Handy interessanter ist als sie.

Sie ist so oft schon fast gerannt in der Hoffnung, es würde sich irgendwann zeigen, welche Mühe sie sich gegeben hat.

So oft hat sie lieber gelernt als zu schlafen, hat sich selbst die Schule zum Wettstreit gemacht und wollte immer die besten Noten haben.

Sie hat auch immer die besten Noten gehabt.

Aber was jetzt?

Gute Noten hin oder her, es fühlt sich an, als habe ihr alle Mühe nichts gebracht.

Ihre Eltern und sie kommen nur schwer miteinander klar, sie ist zu introvertiert um sich mit Freunden zu treffen und wenn sie es schafft, sich selbst zu überwinden und mit jemandem zu treffen, wird sie versetzt oder ist offenbar unsichtbar.

Der Weg zur Buchhandlung hin ist immer eine Qual, Maria kriegt immer Bauchschmerzen beim Gedanken daran, welche Sachen ihre Chefin an jedem Tag neu bemängeln könne.

All die gedanklichen, geheimen Wettkämpfe, welchen Sinn haben sie gehabt?

Maria betrachtet die Tropfen, die die Scheibe herunterkullern, erst beim genaueren Hingucken bemerkt sie, dass das ihre Tränen sind.

Hat sie vielleicht doch verloren?

 

(Picture taken by Sophie Eichel)

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